Inwiefern sind die Geschichten in »Die Katze des Rabbiners« und »Klezmer« auch die Geschichten Ihrer Familie?
Letztendlich überhaupt nicht. Meine osteuropäische Familie hat überhaupt keine jüdischen Traditionen an mich weitergereicht, das hat sie einfach nicht interessiert, und meine Familie aus Nordafrika hatte sich stets bemüht, so französisch wie möglich zu sein. Ich habe also angefangen, mich durch Dinge zu wühlen, die man mir nicht gezeigt hat.
Und dennoch ist zumindest Jakob in »Klezmer« eine Hommage an Ihren Großvater mütterlicherseits.
Jakob ist ein so intelligenter Provokateur wie mein Großvater es auch war. Insofern ist das nicht ganz falsch. Er ist keine Kopie, aber sie haben viel gemeinsam. Mein Großvater hatte eine religiöse Ausbildung erhalten und kannte alles, was man kennen kann. Er war – wie Jakob – eine Art Wunderkind. Als er nach Frankreich kam, hat ihm sein Rabbi gesagt, dass er das alles nicht weitermachen müsse, wenn er nicht wolle.
Kommt Ihre Neugier für Fragen der Philosophie – insbesondere der Aufklärung – von Ihrem Großvater?
Ich habe in Nizza Philosophie studiert und dort haben wir uns intensiv mit der deutschen Romantik und der Aufklärung beschäftigt. Man muss darüber immer wieder nachdenken. Denn es gibt eine große Frage in Europa: Gibt es einen europäischen Universalismus? Ich glaube, es gibt ihn – trotz der vielen Toten, der unzähligen Verbrechen und vielen Fehler. Es gibt die Idee des dialektischen Denkens, die vor über 2000 Jahren in Griechenland aus der Taufe gehoben wurde: Jeder kann im öffentlichen Raum, der Agora, sagen, was er denkt, selbst wenn es Unsinn ist, denn die Öffentlichkeit wird es als solchen enthüllen. Diesen wunderbaren Gedanken haben die Juden, die die griechische Philosophie früh entdeckt haben, schnell in ihr eigenes Denken integriert, die Christen ebenso. Vielerorts hat sich dieser Gedanke im Islam noch nicht durchgesetzt.
Bei all den Verbrechen, die von Europa ausgegangen sind, sehen Sie einen positiven europäischen Universalismus?
Ich schockiere viele, wenn ich das sage, denn der dominante Gedanke heutzutage ist, dass es keinen europäischen Universalismus gibt, weil von europäischem Boden zum einen so viele Verbrechen ausgegangen sind, dass es nichts gibt, was Europa bieten könnte, und weil es Weisheit überall gibt. Ich glaube, überall gibt es Intelligenz, aber die Philosophie ist etwas Europäisches. Wenn ich diesen Diskurs führe, muss ich das ausgewogen und vielseitig tun, weil man mich sonst recht schnell in die Schublade der Eurozentriker steckt. Aber wir müssen aufmerksam und kritisch sein gegenüber den Angriffen auf einen europäischen Gedanken, die wir aktuell erleben, weil sie auf etwas Grundsätzliches zielen. So gibt es aktuell zahlreiche Versuche, die Religion genauso zu schützen wie den Menschen. Aber das ist nicht dasselbe. Man hat nicht das Recht, rassistisch zu sein oder jemanden anzugreifen, aber man hat das Recht zu sagen, dass Religionen völlig idiotisch sind. Denn eine Religion ist ein Text oder eine Idee. Und wenn man das Recht, religiöse Ideen zu kritisieren, nicht hätte, wäre das mehr als ärgerlich, denn die religiösen Dogmen würden den Alltag von uns allen beeinflussen.
Wie erleben Sie die Situation momentan in Frankreich?
In Frankreich ist es aktuell eine überaus delikate Angelegenheit, kritisch über bestimmte Aspekte des religiösen Lebens – insbesondere des Islams – zu sprechen, die zu einer Wiederbelebung der archaischen Elemente des Islams, des Christentums, des Judentums etc. führen. Es gibt einen religionsüberschreitenden Konsens, die reaktionären Kräfte und Ideen in der Gesellschaft zu stärken. Hunderttausende gehen in Frankreich inzwischen auf die Straße, um gegen Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehegemeinschaften zu demonstrieren. Was bedeutet es denn gesellschaftlich, dass diese reaktionären Ideen einen immensen Aufschwung erhalten? Ich habe kürzlich einen Artikel gelesen, der es trefflich auf den Punkt brachte. Darin hieß es in etwa: Nach dem Kampf gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und den Schwangerschaftsabbruch wird das Komitee »Die Erde ist eine Scheibe« wieder einberufen.
Sie sagten schon, dass Sie nicht gläubig sind. Verstehen Sie sich dennoch als Botschafter des europäischen Judentums, vielleicht als eine Art Kulturattaché?
Ich versuche, es nicht zu sein, denn niemand hat das Recht, so zu tun, als könne er das leisten. Ich versuche, ehrlich mit den Fragen umzugehen, die ich mir stelle, und ich muss zugeben, dass die meisten Stimmen, die zu mir und durch mich sprechen, jüdische nichtreligiöse Stimmen sind. Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen, dass meine Werke eine ähnliche Wirkung haben wie die der Autoren, die ich selbst gern lese, die sehr jüdisch sind und zugleich auf der Suche nach dem Universellen. In jedem Fall müssen meine Geschichten für alle sein. Sollte ich eines Tages nur noch für Juden zeichnen und schreiben, wäre das dumm und beschämend. Aber solange meine Geschichten einen Zugang für jedermann haben, kann ich gut damit leben, in irgendeiner Art Vermittlerrolle zu sein. Ob das die des Botschafters oder die des Provokateurs ist, kann ich jedoch nicht so genau sagen.
Halten Sie es für wichtig, dass die jüdische Kultur und Religion im Bewusstsein beziehungsweise am Leben bleibt?
Ich weiß es nicht. Wenn es um die religiöse Kultur geht, hätten wir unsere Kinder im religiösen Sinne erzogen, was aber nicht geschehen ist. Andererseits bin ich auch der Meinung, dass die Juden viel verdient haben, aber gewiss nicht, den Rest der Welt in eine Schuld zu setzen. Sobald vom Judentum die Rede ist, drängt sich eine Schuldigkeit in den Vordergrund, die die Menschen zuweilen davon abhält, über die Dinge nachzudenken. Das ärgert mich immer wieder. Ein Teil meiner Arbeit besteht in dem Sinne womöglich auch darin, den Diskurs, das Sprechen über das Judentum zu befreien. Das gilt auch für den Fall, dass etwas Negatives oder Schlechtes gesagt wird. Wenn das Schuldgefühl wichtiger wird als der Intellekt, die Fähigkeit zu denken, dann ist das ein echtes Problem. Es ist problematisch, wenn sich die Menschen nicht mehr trauen, das Wort Jude oder jüdisch zu sagen, weil sie befürchten müssen, deswegen als Antisemit betrachtet zu werden. In Frankreich ist es vor allem deshalb ein Problem, weil dort der Antisemitismus in einem sehr starken Ausmaß auftritt. Das ist neu und ich meine, dass wir angesichts dieser Entwicklung als Gesellschaft frei miteinander sprechen müssen. Ich bin ein Verfechter der absoluten Redefreiheit.
Was das Thema von der philosophischen Ebene sofort auf eine politische hebt.
Ja, aber das kann man nicht verhindern. Ich sage ja nur, dass man diese Diskussionen akzeptieren und annehmen muss, auch wenn sie anstrengend, nervig oder ärgerlich sind. Ich meine, es gehört zu unseren Aufgaben, Diskussionen nicht abzulehnen oder zu verhindern, sondern zu führen.
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